Prolog
Nachdenklich und mit hängendem Kopf sitze ich auf meinem Bett. Eigentlich sollte dies der schönste Tag des Jahres werden. Ich sollte für einen Tag frei von allen Verpflichtungen sein, aber für mich ist der 11.09, genauso wie letztes Jahr, ein Tag wie jeder andere auch. Heute sollte ich gefeiert werden, nur gibt es in meiner Familie niemanden, der sich dafür bereit erklärt. Traurig blinzle ich eine Träne weg, die sich erfolgreich an die Oberfläche gekämpft hat.
Schwerfällig und seufzend stehe ich auf, gehe zu meinem Kleiderschrank und greife nach einer frischen Jeans. Der Pulli von gestern tut es noch einen weiteren Tag. Packe ich ihn jetzt in die Wäsche, bedeutet das noch mehr Arbeit für mich. Arbeit, die ich eigentlich überhaupt nicht mehr in meinem Alltag unterbringen kann.
Müde schlurfe ich ins Badezimmer, um mich zumindest etwas frisch zu machen. Mir fehlt selbst dafür die Energie, aber ich muss eine Fassade aufrechterhalten, damit niemand die Wahrheit über meine Familie erfährt. Ich bin erschöpft, doch für den Rest der Welt muss ich die Starke spielen.
Als ich im Badezimmer fertig bin, gehe ich zum Zimmer meiner Brüder. Wie sollte es auch anders sein: Niemand hat sie geweckt. Meine Mutter liegt wahrscheinlich komplett benommen auf der Couch im Wohnzimmer und weiß nicht einmal, welchen Tag wir haben.
»Liam, Louie, ihr müsst aufstehen, sonst kommen wir wieder zu spät«, sage ich etwas lauter, doch immer noch leise genug, dass ich meine Mutter nicht wecke.
Auf keinen Fall will ich bereits vor acht Uhr Stress mit ihr haben. Da sich meine Brüder nicht bewegen, berühre ich beide zur Sicherheit sanft an der Schulter. Sofort schrecken sie hoch und sitzen aufrecht im Bett. Verschlafen blinzeln sie mich an, scheinen jedoch sehr schnell zu realisieren, dass ich es bin und nicht unsere Mutter.
»Los, kommt«, wiederhole ich nochmal, weil ich es mir wirklich nicht leisten kann, wieder zu spät zu kommen.
»Ich will nicht in den Kindergarten! Ich möchte deinen Geburtstag feiern. Mit Luftballons, lauter Musik und einer Menge Essen«, nörgelt Louie und verschränkt bockig die Arme vor der Brust.
»Oh ja, Ava, lass uns eine Party mit ganz viel Kuchen machen«, stimmt Liam mit ein.
Das Leuchten in den Augen meiner Brüder versetzt mir ein Stechen im Herzen. Zu gerne würde ich ihnen diesen Wunsch erfüllen. Ich würde alles tun, damit die Zwillinge eine halbwegs erträgliche Kindheit haben. Sie sollen nicht mitbekommen, welche riesige Verantwortung ich gerade trage, und dass alles mit einem einzigen Fehltritt zerbrechen könnte.
»Ihr wisst, dass Mama das nicht will und es sie nur unnötig stresst«, versuche ich, die beiden mit weicher Stimme zu besänftigen.
»Aber es ist dein Geburtstag«, setzt Louie an.
Seine Stimme zittert und ich befürchte, dass er gleich in Tränen ausbrechen wird. Schnell gehe ich zu ihm und lege meinen Arm um seinen für sein Alter zu schmalen Körper.
»Es ist schon in Ordnung. Vielleicht machen wir drei heute Nachmittag etwas zusammen. Aber ich muss Mama vorher fragen«, beruhige ich die beiden.
Doch die Zwillinge sind nicht auf den Kopf gefallen. Auch wenn sie erst vor einem Monat fünf geworden sind, verstehen sie sehr genau, wie es bei uns zu Hause läuft. Dabei versuche ich so sehr, sie weitestgehend aus all dem Schmerz rauszuhalten. Sie sollen nicht so fühlen wie ich. Ich will, dass sie einfach kleine Jungs sein können, die sich keine Sorgen um das große Leben machen.
»Du musst es versprechen.«
Liam schaut mich mit traurigen Augen an und schiebt die Unterlippe vor. Ich hasse es, wenn sie mich so sehr erweichen, dass ich Angst haben muss, am Nachmittag unnötig mit meiner Mutter aneinanderzugeraten.
»Liam, du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Das ist unfair. Unseren Geburtstag haben wir letzten Monat auch gefeiert«, schimpft Louie und schaut mich unzufrieden an.
Wenn sie nur verstehen würden, dass all dies geschehen ist, weil ich mich so sehr bemüht habe, ihnen einen unvergesslichen Tag zu bescheren. Ich habe mein Gehalt gespart, damit jeder von ihnen zumindest ein Geschenk auspacken darf. Für meine beiden Brüder habe ich mich sogar nachts in die Küche gestellt, um einen Schokokuchen mit Dinoverzierung zu zaubern. Und bin dabei jedes Mal Gefahr gelaufen, mit meiner Mutter aneinanderzugeraten. Es hat mich unglaublich viel Kraft gekostet, meine Handlungen so leise wie nur möglich auszuführen. Energie, die ich um diese Zeit erst recht nicht mehr habe.
»Es ist schon okay«, murmle ich und drücke erst Liam an mich, dann Louie.
Ich bin froh, meine Brüder zu haben, auch wenn ich ihnen so sehr ein schöneres Umfeld wünsche. Die beiden sind der Grund, warum ich all das aufrechterhalte. Für Liam und Louie würde ich alles tun.
»Kommt, ihr müsst euch jetzt fertig machen, sonst kommen wir wirklich noch zu spät. Ihr wisst doch, Tanja sieht das nicht so gerne.«
Ich zwinkere ihnen zu. Mit Tanja kann ich sie meistens wieder fangen. Ich weiß nicht, was die beiden so sehr an ihrer Erzieherin mögen, doch es hilft mir oft aus der Klemme. Sie ist bereits hellhörig geworden, weil ich die beiden immer in den Kindergarten bringe und wir schon öfter zu spät gekommen sind.
Es wird mit jedem Tag schwerer, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Ich versuche mit allen Mitteln zu verhindern, dass wir auseinandergerissen werden oder sonst etwas geschieht, das ich nicht kontrollieren kann. Doch ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kontrolle darüber habe, was mit meinen Brüdern und ihrem unschuldigen Leben passiert.
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