Leseprobe "Wie der Sturm dein Herz zerstört"

Veröffentlicht am 23. Juli 2024 um 17:28

Prolog 

 

TW!

 

Lilith

Unsicher stehe ich vor der Tür. Der Wind weht mir kräftig durch die Haare. Obwohl sie zu einem Zopf zusammengebunden sind, reißt der Wind einzelne Strähnen heraus und lässt sie mir über das Gesicht wehen. Genauso zerstreut wie meine Haare fühle ich mich gerade.
Eigentlich will ich das hier nicht machen, aber meine Klassenlehrerin hat mich ausgerechnet mit David in eine Gruppe eingeteilt. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, weil ich nicht weiß, wie das ausgehen wird. Ich will nichts mehr von ihm, aber ich bin mir nicht sicher, ob er das mittlerweile auch verstanden hat.
Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich die Klingel drücke und hoffe, dass wir diese doofe Gruppenarbeit für Deutsch schnell hinter uns bringen. Ich habe nicht das Bedürfnis, länger als nötig in seiner Nähe zu sein.

Die Holztür öffnet sich und David taucht mit einem breiten Lächeln vor mir auf.
»Schön, dass du endlich da bist. Ist ja ziemlich windig draußen. Komm besser schnell rein«, sagt er mehr als höflich.
Sofort überzieht eine Gänsehaut meinen gesamten Körper und ich muss mich schütteln. Mir macht diese überfreundliche Art von David Angst. Ein normaler Mensch würde denken, dass er einfach nett ist; ich weiß, dass sich dahinter eine Menge verbergen kann. Er tut nur so. In Wahrheit ist er sauer auf Henrike und mich, weil wir ihn beide verlassen haben.
Ich schiebe den Gedanken schnell beiseite und betrete das alte Holzhaus. Bei einem heftigen Sturm möchte ich hier nicht wohnen. Wer weiß, wie viel das Dach noch aushält.
Weil ich nicht länger darüber nachdenken will, ziehe ich meine Schuhe aus und hänge die Jacke an einen der freien Haken an der Garderobe. Besser, ich verlasse dieses Haus so schnell wie möglich.
Ohne ihn anzusehen, sage ich: »Können wir dann jetzt bitte direkt anfangen? Ich habe nicht ewig Zeit. Henrike wartet noch auf mich.«
Meine Stimme ist kühl, trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, ihren Namen nochmal zu erwähnen, damit er auch versteht, dass ich nun mit ihr zusammen bin.
Vorsichtig sehe ich auf, doch sofort wird mir bewusst, dass es ein Fehler ist, ihm in die braunen Augen zu schauen. Ohne dass ich reagieren kann, zieht er mich an sich heran und greift mit seinen schwitzigen Händen unter meinen Pullover.
»David, lass das! Ich will das nicht. Ich bin nicht mehr mit dir zusammen. Können wir jetzt bitte endlich die Aufgaben bearbeiten?«, sage ich hartnäckig und versuche, seine Hände von meinem Körper zu lösen, aber er hört nicht auf. Also stoße ich ihn ruckartig von mir weg.
»Hör auf damit!«, fahre ich ihn wütend an.
»Es war ein Fehler, mich zu verlassen. Ich liebe dich«, flötet er mir ins Ohr.
Mir schießt ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und ich zucke heftig zusammen. Sein warmer Atem berührt mein Ohr. Alle Härchen auf meinem Körper stellen sich auf. Am liebsten möchte ich direkt umdrehen und wieder gehen. Aber ich kann mir eine schlechte Note jetzt nicht erlauben. Ich will nach dem Abitur so schnell wie möglich von zuhause weg, doch dafür brauche ich einen guten Abschluss, um Geld zu verdienen. Außerdem bekomme ich nie eine schlechte Note und das werde ich mir nicht von David versauen lassen.
»Können wir jetzt bitte anfangen«, fordere ich mit kühler Stimme und kann mich endlich aus seinem Griff lösen.
Schnell weiche ich zwei Schritte zurück, um eine ausreichende Distanz zwischen uns zu bringen.
»Ich bin noch nicht fertig, aber wenn du unbedingt so scharf darauf bist, jetzt für die Schule zu arbeiten, bitte«, erwidert er genervt und lässt endlich von mir ab.
Seine Worte verunsichern mich sehr, aber ich nehme mir vor, nicht mehr darauf einzugehen. Ich bin nur für die Schule hier und dann kann ich gehen.

Als wir endlich am Küchentisch sitzen, löst sich meine Anspannung zumindest ein kleines bisschen. Ich kann nicht denken, wenn alle Muskeln in mir so verkrampft sind. Trotzdem wird es nicht besser, dass David mir gegenübersitzt. Eine gewisse Grundanspannung bleibt da. Ich stehe ein wenig unter Storm und bin immer auf der Hut.
»Also?«, frage ich genervt.
»Du hast mehr Ahnung vom Thema als ich. Willst du etwas trinken?«, fragt er und lenkt damit direkt wieder von unserer Aufgabe ab.
Eigentlich habe ich keinen Durst, aber, um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, sage ich einfach Ja. Er steht sofort auf und öffnet den Kühlschrank. Mir ist es egal, was er mir jetzt anbietet. Hauptsache, ich habe meine Ruhe und kann dieses Haus so schnell wie möglich wieder verlassen.
Eine Stille füllt den Raum und ich bin sehr dankbar über das Radio, das im Hintergrund läuft.
Als David endlich zwei Gläser mit Fanta auf den Tisch gestellt hat, fangen wir mit den Aufgaben an. Alle anderen Gedanken verschwinden aus meinem Kopf und ich bin vollkommen bei den Deutschaufgaben.
Im Hintergrund nehme ich wahr, dass der Wind draußen immer heftiger wird. Hoffentlich zieht jetzt nicht wieder einer dieser fiesen Stürme auf. Auf keinen Fall will ich den Abend oder womöglich die Nacht bei David verbringen.

***

»Liebe Inselbewohner von Looe, draußen ist ein heftiger Sturm aufgezogen. Bitte bleiben Sie unbedingt in Ihren Häusern und halten Sie sich nicht unter freiem Himmel auf. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten«, ertönt die Stimme unserer Inselmoderatorin aus dem Radio.
Alles in mir gefriert und ich lasse sofort das Glas sinken, aus dem ich dann tatsächlich doch getrunken habe. Nein, nein, das darf nicht wahr sein.
Mein Blick gleitet zum Fenster und alles in mir verkrampft sich. Die Bäume biegen sich gefährlich stark und einzelne Gegenstände, die scheinbar nicht gegen den Sturm gesichert worden sind, fliegen vorbei. Ich spüre einen Stich im Herzen. Wir haben Ende August – da habe ich noch nicht mit so einem Sturm gerechnet. Normalerweise fegen die eher im späten Herbst über die Insel.
»Ich muss jetzt los«, stammle ich und springe vom Stuhl auf.
Erst dabei merke ich, wie müde ich plötzlich bin und dass sich alles ein wenig wie in Watte gepackt anfühlt. Reflexartig halte ich mich an der Tischkante fest. David ist sofort zur Stelle und greift mir unter die Arme.
»Du kannst jetzt nicht raus. Das ist viel zu gefährlich. Du bleibst bei mir, bis der Sturm vorbei ist.«
Seine Stimme wirkt plötzlich so weit weg. Meine Augen fallen zu und ich bekomme sie nur noch mit Mühe auf.

***

Als ich zu mir komme, spüre ich kalte Hände auf meinem Körper. Henrike, schießt es mir durch den Kopf. Ich will lächeln, dann gefriert alles in mir. Meine Muskeln verkrampfen und mein Magen dreht sich um. Ich spüre, wie etwas in mich eindringt. Ich öffne meine Augen krampfhaft. Mir ist eiskalt und ich beginne zu zittern, als ich Davids Gesicht erblicke.
Ich nehme all meine Kraft zusammen und versuche, ihn von mir wegzustoßen, aber es geht nicht. Ich bin zu schwach. Er dringt immer und immer wieder in mich ein. Mir wird übel.
»Lass das! Hau ab!«, schreie ich, was in meinen Ohren sehr laut klingt, aber scheinbar nur wie ein Mäuschen bei ihm ankommt, denn David fängt an zu lachen und macht weiter.

Tränen schießen mir in die Augen. Ich zittere am ganzen Körper und will mich gegen David wehren, aber ich bin machtlos. Er muss mir irgendetwas gegeben haben, davon bin ich überzeugt. Doch die Wirkung lässt langsam nach und ich spüre, wie ich wieder mehr Kraft habe. Energisch stoße ich ihn von mir.
»Du Schwein!«, schreie ich und es ist mir egal, ob seine Eltern möglicherweise mithören, wenn sie da sein sollten.
Hastig richte ich mich auf und greife nach meinen Klamotten, von denen er mich befreit haben muss. Mir wird übel und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich habe noch nie mit David geschlafen und das hatte seine Gründe. Ich ekle mich vor meinem eigenen Körper.
Zitternd streife ich mir meine Klamotten über und stürme zur Haustür. Ich erinnere mich vage an eine Sturmmeldung aus dem Radio, aber das ist mir egal. Ich muss hier weg.
»Wenn du irgendjemandem hiervon erzählst, werde ich deiner Schwester etwas antun«, raunt David mir ins Ohr, bevor ich hastig nach meinen Sachen greife und das Haus fluchtartig verlasse.

Der Wind peitscht mir meine Haare ins Gesicht. Ich greife automatisch nach meinem Zopf, muss aber feststellen, dass ich keinen mehr habe. David hat ihn geöffnet.
Eisige Schauer laufen mir den Rücken hinunter. Auch wenn ich nicht alles mitbekommen habe, spüre ich seine ekligen Finger noch immer auf meiner Haut. Ich beuge mich nach rechts und Flüssigkeit verlässt meinen Körper. Meine Speiseröhre brennt und ich breche in Tränen aus. Salzige Schlieren laufen mir an den Wangen hinab und treffen auf meine wunden Lippen. Dies löst einen stechenden Schmerz aus, der durch meinen Körper schießt. Ich muss unbedingt duschen – so schnell und lang wie nur möglich.

Obwohl ich Davids Haus bereits hinter mir gelassen habe, renne ich noch immer. Ich will ihn nie wieder in meiner Nähe spüren. Der Wind bremst mich deutlich aus und der einsetzende Regen sorgt dafür, dass mir meine Klamotten am Leib kleben. Normalerweise hätte ich den Bus genommen, weil es bis nach Hause etwas mehr als zwei Kilometer sind. Aber das ist mir gerade vollkommen egal – wahrscheinlich würde nicht einmal einer fahren.
Ich renne, als würde es um mein Leben gehen. Er ist nicht hier, trotzdem spüre ich ihn deutlich auf meinem Körper. Meine Tränen werden heftiger, doch ich renne einfach. Ich bekomme kaum noch Luft, aber es ist mir egal. Ich muss hier weg. Ich brauche eine Dusche. Ich muss seine ekligen Hände von mir abschrubben.

Ab 16.10 überall erhältlich

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