Leseprobe "Liebe. Verzweiflung. Und zu viel dazwischen."

Veröffentlicht am 27. Juli 2024 um 10:04

Prolog


Am Ende braucht man mehr Mut, um zu leben, als um sich umzubringen.
~ Albert Camus

Mein Herz zieht sich zusammen. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib, heiße Tränen laufen meine Wangen hinab und ich starre auf das Auto. Es hat sich um den Baum gewickelt. Der Stamm trennt das Blech in zwei, er teilt die Motorhaube. Wieder schreie ich um Hilfe, doch es passiert nichts. Niemand ist in der Nähe.
»Paula, tu mir das nicht an! Bleib bei mir. Bitte stirb nicht«, kreische ich unter Tränen und ziehe ihren Körper aus dem Auto.
Ich werfe mich auf ihren Oberkörper und versuche, sie zu wecken, aber ihre Augen bleiben geschlossen. Sie rührt sich nicht, sie atmet nicht mehr. Die Welt scheint plötzlich versteinert. Meine Tränen tropfen auf Paulas Körper und vermischen sich mit ihrem Blut.
Ein letzter Blick in ihre leeren Augen. Es fühlt sich an, als würde jemand mit voller Wucht ein Messer in mein Herz hineinrammen.
Plötzlich höre ich Stimmen und schrecke zusammen. Ich erwache aus meiner Schockstarre und meine Beine tragen mich einfach. Ich verstecke mich hinter einem Busch, um nicht gesehen zu werden. Mein Herz droht, aus meinem Brustkorb zu springen, niemand soll mich sehen. Das Leben ist vorbei. Wenn Paula nicht lebt, möchte ich auch nicht mehr sein.

Meine Beine tragen mich weiter über den sandigen Kiesweg. Ich stolpere und rappele mich wieder auf. Bäume ziehen verschwommen an mir vorbei und ich ducke mich hinter Büschen. Ich muss außer Sichtweite, doch nur so weit, dass ich Paula noch sehen kann. Sobald mich jemand sieht, kann ich es nicht mehr beenden.
Wenn Paula stirbt, werde auch ich sterben.
Als ich kaum noch Luft bekomme und mein Atem in den Tränen zu ersticken droht, stoppe ich und verstecke mich nochmals hinter einem Busch, um Luft zu holen. Ich halte inne, in der Hoffnung, niemals gesehen zu werden.

Hätte ich nicht mit Paula diskutiert, was wir nun unternehmen würden, wäre all das niemals geschehen. Wir waren auf dem Weg ins Nirgendwo. Alles, nur weit genug von meiner Mutter entfernt.
Vorsichtig schiebe ich ein paar Blätter zur Seite, um ein letztes Mal auf das Auto zu schauen. Eine Frau hält ihre Finger an Paulas Hals und für einen Moment rast mein Herz. Doch das Kopfschütteln der Frau in Richtung ihres Mannes zeigt mir die eiskalte Realität. Ich unterdrücke die aufkommenden Schluchzer und lasse die Tränen stumm an meinen Wangen hinablaufen. Paula ist tot und ich kann nichts daran ändern. Sie starb und ich habe kaum eine Schramme.
Leise stehe ich auf und gehe weiter, bis meine Schritte in ein Rennen übergehen und der Boden unter meinen Füßen zu verschwinden scheint. Ich habe genau ein Ziel vor Augen. Die Brücke, die mein Leben beenden wird. Sie ist der einzige Weg zu meiner Schwester. Ich will mit ihr glücklich sein und nicht allein auf dieser verlorenen Erde.

Mit einem starren Blick fixiere ich die Brücke und klettere auf das Geländer, doch irgendetwas in mir hindert mich, direkt zu springen. Meine Füße verharren auf dem schmalen Holz. Unter mir der graue Asphalt einer fast leeren Autobahn – am Rande ein paar einzelne Bäume, die wenig gesund aussehen. Es wirkt beängstigend lautlos und einsam. Aber ich weiß, wenn ich springe, werde ich sterben. Egal, wie viele Autos unten fahren. Es ist tief genug, um nicht zu überleben. Tief genug, um bei meiner Schwester zu sein. Tief genug, um mein zerbrochenes Leben zu beenden.
Ich starre auf den Boden und will meine Füße einen Zentimeter bewegen, doch sie tun es nicht. Sie sind wie auf dem Holz festgeklebt. Nur meine Knie zittern unaufhaltsam. Die verschiedenen Stimmen in meinem Kopf kreischen einander an. »Wenn du jetzt nicht springst, sieht dich jemand!« »Spring endlich, sonst kannst du es nicht mehr beenden.« »Du willst bei Paula sein und nicht allein auf dieser Erde!«
Ich habe keine Kraft mehr, mich dem Streit zu widmen. Stumme Schreie verlassen meinen Mund. Laute, die niemand jemals hören wird. Ich will für immer allein sein. Allein, um mein Leben zu beenden. Vielleicht habe ich Angst und springe deshalb nicht sofort, aber ich muss. Es gibt keinen Ausweg.
»Scheißfüße, nun bewegt euch endlich«, fluche ich und versuche, meinen linken Fuß vom schmalen Holz des Brückengeländers zu lösen.
Der Balken unter mir knarzt und ich zucke zusammen. Warum ist das nur so verdammt schwer? Wind wirbelt um mich. Ich weiß nicht, wo er herkommt, doch er berührt mich. Er lässt meine Seele in tausend noch kleinere Stücke zerbrechen. Ich wünsche mir, dass er mich hinunterweht.
In Gedanken versunken starre ich in die Ferne. Unter mir fährt ein LKW und ich denke mir: Genau jetzt ist deine Zeit.
»Tue es«, flüstere ich mir Mut zu und hoffe, dass meine Beine mir endlich gehorchen.
Ich bewege meinen rechten Fuß und blicke bereits in die Freiheit.
Plötzlich reißen mich starke Arme von der Brücke und ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich schreie, weine, fühle mich verloren. Wütend schlage ich um mich, doch der Griff löst sich nicht.
»Es ist alles gut. Wir finden eine Lösung«, nehme ich gedämpft eine weibliche Stimme wahr.
»Paula«, flüstere ich geschwächt.
Heiße, salzige Tränen strömen mir an den Wangen hinab. Ich bilde mir ein, dass meine Schwester hinter mir steht, doch sie kann es nicht sein. Sie ist tot. Genauso tot, wie ich mich fühle. Einsam. Allein.
Niemand wird mir helfen können, diese innere Leere zu überwinden. Sie bestimmt mein Leben nicht erst seit diesem Tag, sie ist schon viel länger da. Sie ist diejenige, die mich auffraß und mein Leben seit Wochen mit jedem Tag schlimmer werden ließ. Das Schlimmste war, dass ich nicht einmal wusste, wieso. Vor eineinhalb Jahren kam sie wie aus dem Nichts und hat mich seitdem nicht mehr verlassen. Google hat mir gesagt, ich hätte Depressionen, doch das glaube ich nicht.

»Lassen Sie mich los! Mir kann niemand helfen. Ich will gehen«, schluchze ich und schlage um mich, ohne mich aus dem Griff lösen zu können.
Meine letzte Hoffnung wurde zerstört.
»Es wird alles gut. Wir bringen dich jetzt an einen Ort, an dem dir geholfen wird«, antwortet die Polizistin und hilft mir auf die Beine.
Ich will mich aus ihrem Griff lösen und fliehen, aber sie hält mich zu fest. Ich weiß, was kommt und an diesen Ort möchte ich nicht. Kein Mensch kann mir helfen. Niemand. Nur ich mir allein. Mit dem Ende meines Lebens.

Schweigend sitze ich auf der Rückbank des Polizeiautos, neben mir die Polizistin. Ich sehe ihr blondes Haar im Augenwinkel, aber ich schaue sie nicht an.
Kein Mensch soll etwas von meiner gebrochenen Seele wissen. Ich frage mich, wo die Polizistin plötzlich herkam, aber ich bin mir sicher, dass sie bei Paula waren und ahnen, dass ich dabei war. Das verschmierte Blut, das ich hinterlassen habe. Keiner weiß, wie sehr mein Herz an diesem Tag aufhörte zu schlagen.
Auf der gesamten Fahrt zieht die Landschaft an mir vorbei. Obwohl ich sie sonst liebe, hasse ich die Natur heute. Ich beschließe, alles und jeden zu hassen.

Vor mir erhebt sich ein großes Gebäude. Es sieht nicht aus wie ein Krankenhaus, sondern erinnert eher an ein altes Schulgebäude, das jetzt eine Jugendherberge ist. Für einen Moment überlege ich, ob sie mich an einen anderen Ort gebracht haben. Hoffnung keimt in mir auf. Mein Herz rast. Vielleicht ist dies meine Möglichkeit, um dem Leben zu entkommen. Ich will aus dem Auto fliehen, doch meine Beine tragen mich keinen Zentimeter, die Polizistin wäre sowieso schneller als ich.
»Hier wird dir geholfen«, sagt sie mit sanfter Stimme.
Ich schüttle mit dem Kopf.
»Mir kann niemand helfen«, flüstere ich und starre auf den Eingang.
Ich will mich lösen und weglaufen, aber sie verstärkt ihren Griff.
»Lassen Sie mich gehen«, schluchze ich und wende meine letzte Kraft auf.
»Das kann ich nicht. Vielleicht siehst du gerade keinen Ausweg, aber es gibt einen«, erwidert sie und die Tür des Gebäudes öffnet sich.
Nun sitze ich in der Psychiatrie fest. Wahrscheinlich mein Leben lang.

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.