Katja
Wieder einmal sitze ich mit hängenden Schultern auf meinem Platz im Lehrerzimmer und erinnere mich an das Gespräch des letzten Dienstages vor den Ferien. Ich habe meiner Schülerin aufmerksam zugehört und ihr versprochen, gemeinsam mit ihr eine Lösung zu finden. Seitdem hat sich nichts mehr getan und ich überlege ständig, ob ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe ihr versichert, zusammen mit ihr an den Problemen zu arbeiten, ihr bei allen Schwierigkeiten zu helfen. Mein Herz sticht, vielleicht bin ich mit diesen Worten zu weit gegangen. Eventuell habe ich mich selbst überschätzt und eine Grenze übertreten.
In Momenten wie diesen fühle ich mich hilflos. Noch nie ist es vorgekommen, dass eine Schülerin sich danach nicht mehr gemeldet hat. Ein schweres Gefühl liegt in meinem Magen und ich grüble in jeder freien Minute, weil ich mir ernsthafte Sorgen mache. Was, wenn etwas Schlimmes passiert ist?
Immer wieder spielen sich die Gespräche, die ich im Laufe der Zeit mit Liv geführt habe, in meinem Kopf bis ins kleinste Detail ab. Oft wiederhole ich in meinen Pausen sogar die prägenden Inhalte der Unterhaltung.
Was, wenn ich falsch gehandelt habe? Habe ich eventuell dazu beigetragen, dass Liv ihren Problemen erlegen ist?
***
Besagter Dienstag
»Hallo Liv, du wolltest mit mir reden. Worum geht es denn?«, empfange ich meine Schülerin mit einem weichen Lächeln auf den Lippen im Beratungsraum der Schule.
Bei Livs Anblick spüre ich einen Stich in ihrem Herzen. Schon lange habe ich bemerkt, dass es dem Mädchen nicht gut geht. Mir sind die tiefen Augenringe und das abwesende Verhalten aufgefallen, aber ich habe ihr Zeit gegeben, selbst um Hilfe zu bitten. Es bringt nichts, wenn ich meine Schüler zu einem Gespräch zwinge. Falls sie über ihre Probleme reden wollen, müssen sie sich dazu entscheiden, da bringt kein Zwang der Welt etwas, auch wenn ich es sie manchmal gerne dazu zwingen möchte, weil ich sehe, wie sehr sie leiden.
Ich denke an die letzten Tage zurück. Mit jeder Unterrichtsstunde ist Liv zurückhaltender geworden und hat sich schließlich komplett aus dem Unterrichtsgeschehen zurückgezogen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie vollkommen abgekapselt vom Rest sitzt und sich klein macht, um ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Mein Blick gleitet wieder zu Liv. Ohne es zu wollen, fahre ich einmal an ihrem Körper hinab. Wie auch die letzten Male im Unterricht bereitet mir die lange Kleidung Sorgen und lässt mich grübeln. Dass eine Schülerin ihre Arme selbst bei über dreißig Grad verdeckt, ist nie ein gutes Zeichen.
Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen. Übersehe ich etwas? Braucht Liv vielleicht dringend Hilfe?
Liv
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, beginne ich nach einer Pause mit zitternder Stimme.
Unsicher gleitet mein Blick durch den kleinen Raum. Ich schaue mit verkrampftem Magen an Frau Meyer vorbei und fokussiere einen Stift, der auf dem Tisch hinter ihr liegt. Er ist mein Ankerpunkt. Ich brauche irgendetwas, an dem ich mich gedanklich festhalten kann. Dieses Gespräch löst große Panik in mir aus. Mein Herz hämmert heftig gegen den Brustkorb und ich habe Angst, kaum Luft zu bekommen. Ist diese Unterhaltung vielleicht doch keine gute Idee? Hätte ich besser allein mit meinen Sorgen zurechtkommen sollen? Was, wenn meine Lehrerin sich am Ende über mich lustig macht oder noch schlimmer, meine Eltern informiert?
»Nimm dir die Zeit, die du brauchst«, versichert Frau Meyer mir mit einem leichten Lächeln.
Ich ringe kurz mit mir, aber dann setze ich tatsächlich zum Reden an. Ich bin ein wenig überrascht, dass die Worte wirklich über meine Lippen gleiten.
»Ich habe ein paar Probleme, die mich belasten, und ich weiß nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll. Es nimmt mir die Freude an fast allem«, murmle ich leise.
Es fällt mir schwer, meiner Lehrerin bei diesen Worten in die Augen zu sehen. Niemand würde solche Umstände so direkt offen zugeben. Meine Stimme zittert und ich kauere mich auf der Couch zusammen. Mein Blick gleitet unruhig durch den Raum und ich presse meine Hände schmerzhaft aneinander. Wieso gibt es hier nichts, an dem ich mich festhalten kann?
»Fang einfach von vorne an und wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich nach. Ich bin mir sicher, wir finden gemeinsam eine Lösung. Es gibt keine Probleme, die nicht überwindbar sind«, ermutigt Frau Meyer mich mit einem offenen Lächeln.
»Vor einer Woche hat meine beste Freundin mir die Freundschaft gekündigt«, flüstere ich mühevoll.
Meine Stimme bricht ab und ich merke, wie die Tränen in mir hinaufkriechen. Doch ich will tapfer sein und auf keinen Fall vor meiner Lehrerin weinen.
»Ich weiß nicht, wieso. Es fing alles damit an, dass sie sich immer weiter von mir zurückgezogen hat. Ich verstehe das nicht. Wir haben uns gut verstanden«, setze ich fort und mache eine Pause, in der ich versuche, meine Gedanken zu ordnen.
Irgendwie habe ich mir das um einiges leichter vorgestellt.
»Ich bin traurig, dass ich mich so in ihr getäuscht habe. Einzig und allein meine beiden Freundinnen Hannah und Paula halten noch zu mir, aber die sind nicht in meiner Klasse. Ich habe das Gefühl, dass ich niemandem mehr vertrauen kann«, schildere ich zögernd und beiße mir schon wieder auf die Unterlippe.
Meine Stimme zittert und ich habe Angst vor der Reaktion meiner Englischlehrerin. Mein Magen zieht sich unglaublich schmerzhaft zusammen und eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, sodass ich mich schütteln muss.
Das ist längst nicht alles. Doch den Rest erzählen zu müssen, macht mir Angst und lässt mein Herz deutlich schneller schlagen. Ich versinke in meinen Gedanken und verschwinde ein Stück weit aus der Realität.
Wie wird Frau Meyer darauf reagieren? Was wird sie denken, wenn sie erfährt, was bei mir alles schiefläuft? Am schlimmsten ist der Gedanke, dass sie eventuell meine Eltern informieren könnte.
Ich bin überzeugt davon, dass es nicht bei wenigen Gesprächen bleiben wird, sobald ich erzähle, wie sehr ich mit meinem Körper und dem Leben kämpfe.
Es macht mir Angst, wieder länger mit Frau Meyer zu sprechen, ohne die Situation kontrollieren zu können. Wenn ich eins in meinem Leben brauche, dann ist es Kontrolle.
Weil ich mich seit Wochen so unwohl fühle, haben mein Kopf und Körper angefangen, sich zu verändern. Täglich kämpfe ich mit den seelischen Folgen des Streits mit meiner besten Freundin. Ständig denke ich darüber nach, warum Saskia die Freundschaft beendet hat.
Bin ich schuld an allem? Habe ich einen schlimmen Fehler begangen? Habe ich etwas übersehen?
»Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es tut immer weh, einen wichtigen Menschen zu verlieren. Ich glaube aber, dass sie es dir gesagt hätte, wenn sie mit dir ein Problem hat. Hast du sie direkt darauf angesprochen?«
Ich schüttle den Kopf und suche nach den richtigen Sätzen, die es nicht zu geben scheint.
»Nein, sie redet kein Wort mehr mit mir. Saskia hat die Freundschaft nicht einmal persönlich beendet, sondern in einer Whatsapp-Nachricht. Ich habe mich unbewusst verändert, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe«, erwidere ich mit stockender Stimme und kämpfe plötzlich mit den Tränen.
Sofort drifte ich wieder in meine grübelnden Gedanken ab. Soll ich Frau Meyer davon erzählen? Soll ich ihr sagen, wie sehr dieser Streit mein Leben verändert hat? Kann ich ihr vertrauen? Wird sie merken, wie ich mich wirklich fühle? Kann sie vielleicht sogar meine Gedanken lesen?
Ich zögere, meiner Lehrerin von den privaten Sorgen zu berichten. Niemand wird mich verstehen, davon bin ich überzeugt. Ich bin ganz allein mit meinen Problemen.
»Du kannst mir alles erzählen«, sagt Frau Meyer, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Alles, was wir besprechen, bleibt in diesem Raum und ich bin überzeugt, dass es dir besser gehen wird. Oft tut es uns Menschen gut, wenn wir über das sprechen, was uns beschäftigt. Nur so können wir gemeinsam eine Lösung finden, mit der du dich besser fühlst.«
Ich halte kurz inne, bevor ich mich dazu durchringe, weiter zu sprechen.
»Ich kann seitdem morgens nichts mehr essen und allgemein habe ich keinen Hunger im Laufe des Tages. Die Situation ist mir ziemlich auf den Magen geschlagen, ich hungere nicht absichtlich, wirklich.«
Tränen kriechen immer stärker in mir hinauf. Ich brauche eine kurze Pause. Obwohl ich Frau Meyer vertraue, fällt es mir schwer, diese Worte auszusprechen. Ein Stück weit schäme ich mich für meine Probleme. Doch zu meinem Erstaunen fragt meine Lehrerin nicht nach und ich beginne, weiter zu erzählen.
»Tagsüber fühle ich mich oft leer. Ich weiß nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll. Es gibt immer häufiger Tage, an denen ich morgens nicht mehr aus dem Bett komme oder den gesamten Tag am liebsten liegen bleiben und nichts tun möchte«, breche ich leise mein Schweigen und sehe kurz auf, ehe ich meinen Blick direkt wieder senke.
Vielleicht wäre es besser, wenn ich jetzt aufhöre, etwas zu erzählen.
»Mir macht diese Veränderung Angst. Zu Hause fühle ich mich momentan nicht mehr wohl und bin meistens den ganzen Tag draußen, um allein zu sein. In manchen Momenten wünsche ich mir, unsichtbar zu sein.«
Diese Worte gleiten kaum über meine Lippen, sie fühlen sich wie zugeklebt an. Aber ich klammere mich an den kleinen Funken Hoffnung, dass Frau Meyer mir helfen kann.
»Danke, dass du mir davon erzählt hast, Liv. Es ist nicht ungewöhnlich, dass uns eine Situation auf den Magen schlägt. Du bist genau im richtigen Moment zu mir gekommen. Wenn wir darüber sprechen und du es nicht mit dir selbst ausmachst, wird es dir bestimmt bald wieder besser gehen«, erwidert Frau Meyer mit ruhiger Stimme.
Sie macht eine kurze Pause und mein Herz beginnt augenblicklich, schneller zu schlagen.
»Wir sollten uns zusammen Methoden überlegen, die dir helfen, wieder in ein geregeltes Essverhalten zu kommen. Hast du schon mal versucht, mit jemandem gemeinsam zu essen? In Gesellschaft können wir meistens besser essen und denken gar nicht daran. Und kannst du dir denn erklären, warum du dich zu Hause immer unwohler fühlst?«
Ich verfalle in ein kurzes Schweigen, bevor ich mich dazu durchringe, einen Teil der Wahrheit auszusprechen.
»Ich will mich nicht zwingen müssen. Essen sollte etwas völlig Normales sein«, erwidere ich und mache eine kurze Pause, bevor ich weiterspreche. »Zu Hause fühle ich mich kontrolliert. Meine Eltern verstehen nicht, dass ich in einem Alter bin, in dem ich etwas allein machen möchte. Ich will das wirklich wieder auf die Reihe bekommen.«
Kurz glaube ich, dass da erneut diese Willensstärke ist, von der Frau Meyer bereits in unseren letzten Gesprächen gesprochen hat, doch irgendwie bin ich mir nicht sicher. Ich fühle mich alles, aber nicht stark und mutig.
Trotzdem nehme ich keine Situation so hin, wie sie ist, wenn es einen anderen Weg gibt.
Gemeinsam sprechen wir einen Moment über das Ende der Freundschaft und meine Beziehung zum Essen, ehe wir das Gespräch mit ein paar Aufgaben zu meinem Essverhalten beenden. Frau Meyer will von nun an regelmäßig mit mir sprechen, um eine Entwicklung beobachten zu können.
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